Lost illness Histaminintoleranz

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Fragenteste
In der Medizin sind Fragenteste durchaus üblich. Und zwar immer dann, wenn es keinen Biomarker für eine sichere Diagnose gibt oder wenn die Diagnostik eine aufwendig teure Bildgebung (z. B. ein MRT) erfordert. Ein Fragentest kann immer nur eine Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer bestimmten Erkrankung ergeben. Als Beispiele seien genannt die Fragenteste für Morbus Bechterew (Wirbelsäulenrheuma), Depression oder Autismus-Spektrumstörung. Weil es auch für die Histaminintoleranz keinen praktikablen beweisenden Biomarker gibt und die Wissenschaft genaus deshalb ihre Existenz anzweifelt, habe ich einen Fragentest zur Histaminintoleranz entwickelt:

Fragentest Histaminintoleranz
Fragen zu Unverträglichkeiten
01 Milch unverträglich (oder meidest du sie)?
02 Äpfel und Apfelsaft unverträglich (oder meidest du beides?)
03 Rotwein unverträglich (Kopfschmerz)?
04 Schokolade unverträglich?
05 Gemüse wie Spinat oder Tomate unverträglich?
06 Fermentiertes wie Sauerkraut unverträglich?
07 Geräuchertes wie Salami / Makrele unverträglich?
Fragen zu Beschwerden
08 Öfter Hautausschlag / Juckreiz?
09 Öfter Kopfschmerzen?
10 Öfter Bauchbeschwerden ?
11 Öfter Übelkeit / Erbrechen?
12 Stuhlgang eher ungeformt als geformt?
13 Schlafstörung? Evtl. nächtliches Aufwachen zwischen 0 und 3 Uhr (vielleicht mit hohem Blutdruck / Herzrasen)?
14 Öfter verstopfte Nase oder laufende Nase?
15 Schwellungen Gesicht / Lider / Mundschleimhaut?
Testauswertung
Ja bei Frage 1: Überlege, ob eine Lactoseintoleranz vorliegen könnte.
Ja bei Frage 2: Überlege, ob eine Unverträglichkeit von Fructose vorliegen könnte.
Ja bei Frage 8-13: auch wenn du hier nur 1 Frage mit Ja angekreuzt hast, solltest du dich in deiner Hausarztpraxis vorstellen!
Ja bei Frage 3 bis 7: Je mehr dieser Fragen du mit Ja angekreuzt hast, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Histaminintoleranz vorliegt.
Ja bei Frage 8 bis 15: Je mehr dieser Fragen du mit Ja angekreuzt hast, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Histaminintoleranz vorliegt. Bei einer Histaminintoleranz können die Beschwerden einzeln oder in Kombination auftreten. Auch kann es sein, dass du einige der aufgeführten Beschwerden immer wieder und andere gar nicht hast.
Nein bei Frage 3 bis 7: Wenn du jede dieser Fragen mit Nein angekreuzt hast, ist eine Histaminintoleranz sehr unwahrscheinlich.

Die Diagnose Histaminintoleranz
Für die Histaminintoleranz gibt es keinen einfachen medizinischen Test, der sie beweisen könnte. Keinen Laborwert und keine Bildgebung. Der Histaminintoleranz sehr ähnlich sind zudem das Mastzellaktivierungssyndrom und die Alpha-Tryptasämie (bei letzterer ist die Tryptase im Serum erhöht). Da du von ärztlicher Seite oft wenig bei der Diagnosefindung unterstützt werden wirst, musst du selbst aktiv werden!
Wenn du diesen Fragentest gemacht hast und eine Histaminintoleranz bei dir für möglich hältst, solltest du 2 bis 3 Wochen lang ein Ernährungs-Symptom-Tagebuch führen. Schreibe alles auf, was du isst und trinkst, auch was du so nebenbei zu dir nimmst und notiere parallel deine Beschwerden, am besten auch alles noch mit Uhrzeiten versehen. Erhärtet dieses Protokoll deinen Verdacht, dann gehst du zu einer histaminarmen Ernährung über und beobachtest, ob es dir mit dieser deutlich besser geht.

Einer Histaminintoleranz auf die Spur kommen
Ernährungs-Symptom-Tagebuch
Unterstützend kannst du mein Buch „Lebensmittelunverträglichkeiten – so teste ich mich selbst“ nutzen.
Notwendigkeitsbescheinigung für eine Ernährungsberatung durch deine Hausarztpraxis (nimm dein Ernährungs-Symptom-Tagebuch zur Erstberatung mit!)
Vorstellung in einer Praxis mit Schwerpunkt Ernährungsmedizin
Vorstellung in einer Praxis für Gastroenterologie
Wenn all‘ diese Maßnahmen dich nicht weiter bringen, könnte eine Spezialambulanz in einer Uniklinik dir möglicherweise noch weiterhelfen. Hierfür benötigst du einen Termin, eine Überweisung und manchmal auch eine Vorabanmeldung durch deine Hausarztpraxis.

Lost illness Histaminintoleranz
Für die Diagnose Lactoseintoleranz und Fructosemalabsorptionund auch für weitere Malabsorptionen gibt es Atemteste, anhand derer die Diagnose in der Regel festgemacht werden kann. Für die Histaminintoleranz gibt es so etwas nicht. Es ist eher sogar so, dass die Existenz der Histaminintoleranz ignoriert, belächelt, als Befindlichkeitsstörung abgetan oder völlig in Frage gestellt wird.
So wird man den Menschen mit diesem Leiden und dem entsprechenden Leidensdruck nicht gerecht. Auch ist eine Histaminintoleranz nicht unbedingt harmlos. Ich kenne da das ein oder andere Beispiel.

Risiko Histaminintoleranz
Eine 45-jährige Frau, der eine oft verstopfte Nase auffiel – mit Mundatmung und Austrocknung der Schleimhäute über Nacht – stellt sich beim HNO-Arzt vor: dieser empfiehlt eine Operation (ohne konkrete Diagnose). Die Frau lehnt das ab und kommt später im Leben, nach Erkenntnis ihrer Histaminintoleranz, mithilfe einer Ernährungsumstellung gut zurecht.
Eine gut 60-jährige Frau, der ihre Histaminintoleranz schon seit Jahren bekannt ist, besucht abends ein Fest und bedient sich verständlicherweise am Buffet, ohne dass ihr die einzelnen Zutaten bekannt sein könnten. Nachts wacht sie kaltschweißig auf, verspürt Übelkeit und Herzrasen, muss erbrechen und wird ohnmächtig. Mit dem Aufwachen geht es ihr besser (Anm.: hier würde ich den Verdacht auf eine supraventrikuläre Tachykardie mit Kreislaufdekompensation stellen).
Ein 12-jähriges Kind, bei dem seit 4 Jahren der Verdacht auf eine Histaminintoleranz besteht (häufiger Übelkeit, Erbrechen, Bauchbeschwerden, Besserung mit histaminarmer Kost) beginnt, möglicherweise angeregt durch ihre Peargroup, histaminreiche Convenience- und To go-Produkte zu sich zu nehmen. Eines Tages kommt es zu Bauchschmerzen, deren Lokalisation und Charakter stark an eine Blinddarmentzündung denken lassen. Das Kind wird in einer Kinderklinik vorgestellt, wo man es nach einer Ultraschalluntersuchung mit der Bemerkung entlässt, man könne keinen Hinweis auf eine Blinddarmentzündung feststellen. Immerhin wurde so eine OP vermieden (sogar ohne Blutbild, denn das Blutbildgerät war zu dem Zeitpunkt gerade defekt). Allerdings gab es auch keinerlei Ratschlag zu einer anderen Ursache der Bauchschmerzen. Übrigens war das Kind schon 4 Jahre zuvor in derselben Klinik untersucht worden – mit unauffälligen Atemtests für Lactose und Fructose. Als die Eltern dann die Möglichkeit einer Histaminintoleranz erwähnten, begann das große Schulterzucken und das müde Lächeln – so wie es auch die meisten anderen Menschen mit Histaminintoleranz kennenlernen.
– Ein 92-jähriger Mann hat sein Leben lang unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Oberbauchbeschwerden gelitten. Er war beruflich und ehrenamtlich viel unterwegs, was regelmäßig mit Empfängen und Außerhaus-Mahlzeiten verbunden war. Immer wieder beklagt er im Rahmen seiner Bauchbeschwerden, er habe wohl zu viel und falsch gegessen. Im Alter von etwa 45 Jahren wurde eine Gallenblasenentfernung durchgeführt, ohne dass anschließend eine Besserung eingetreten wäre (auch sein Großvater soll unter häufigen Oberbauchbeschwerden gelitten haben und an der Gallenblase operiert worden sein). Im Alter von 92 Jahren wird der Senior wegen erneuter Oberbauchbeschwerden akutstationär eingewiesen. Es werden Bauch-CT, Magen- und Darmspiegelung, Ultraschall und ausführliche Laboruntersuchungen durchgeführt – alles mit unauffälligen Ergebnissen. Der Senior, der kurz danach durch eine Radiosendung auf die Histaminintoleranz aufmerksam gemacht wird, beginnt mit einer histaminarmen Kost. Die Umstellung fällt ihm nicht leicht, doch er bleibt anhand einer Lebensmittelliste dabei und verspürt eine deutliche Besserung. Insbesondere wegen der Schlafstörung nimmt er vorübergehend ein Antihistaminikum ein, das ihm umgehend Schlaf verschafft.

Doch nicht nur „Histaminintoleranz“?
Du hast den Eindruck, eine histaminarme Ernährung hilft dir nicht ausreichend, obwohl es dem Selbsttest nach eigentlich so sein sollte? Dann kommen andere histamingetriggerte Erkrankungen wie MCAS, HAT und SM oder auch eine Glutensensitivität in Betracht. Sowohl das MCAS, die HAT als auch die SM sind jedoch nicht Diagnosegegenstand der niedergelassenen Ärzt:innen. Hierfür bedarf es der Inanspruchnahme von Spezialambulanzen, die in der Regel zu Universitätskliniken gehören. :
Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS)
Sind die weißen Blutkörperchen die Polizei des Körpers, die gegen Bakterien und Viren kämpfen, dann sind die Mastzellen das SEK des Körpers, ausgerüstet mit Miniwaffen (histaminhaltigen Granula = Körnchen) zur Abwehr von Allergenen. Gelangen bestimmte Botenstoffe (z. B. enthalten in Tomaten, Spinat, Schokolade und vielen anderen Lebensmitteln) in den Körper, dann schütten die Mastzellen, die in besonders hoher Zahl in der Schleimhaut des Darmes ruhen, explosionsartig Histamin aus. Das macht krank.
Hereditäre Alpha 1-Tryptasämie (HAT)
Mastzellen beinhalten neben Histamin eine große Zahl weiterer Botenstoffe, so unter anderem das Enzym Tryptase. Liegt dieses Enzym aufgrund einer genetisch bedingten Mehrfachanlage des zuständigen Gens in höherer Konzentration vor als normal, dann führt dies zu Symptomen ähnlich denen einer Histaminintoleranz. Auch sind Überschneidungen der Erscheinungsform mit MCAS oder SM möglich.
Systemische Mastozytose (SM)
Die Mastzellen befinden sich bei dieser Erkrankung nicht mehr nur an ihren angestammten Plätzen (wie z. B. Knochenmark, Lymphknoten), sondern sie sind wie eine Streifenpolizei im Körper unterwegs und sie deln sich in bzw. an Organen ab. Erhalten sie an diesen Orten Kontakt mit bestimmten Botenstoffen aus Lebensmitteln, dann treten organspezifische Symptome auf, wie beispielsweise Asthma.
Sowohl das MCAS als auch die Systemische Mastozytose profitieren von Antihistaminika, die eine streng histaminarme Ernährung ergänzen. Für die Diagnose beider Erkrankungen ist die Vorstellung in einer Spezialabteilung (Unikliniken) erforderlich.
Glutensensitivität
Mittlerweile ist ihre Existenz anerkannt. Im Gegensatz zur Zöliakie handelt es sich nicht um eine Autoimmunerkrankung, sondern um eine Überemfindlichkeit gegenüber glutenhaltigen Getreiden, die zu ähnlich mannigfaltigen Symptomen wie bei der Histaminintoleranz führt.

Literatur zum Thema
Wer sich näher für das schwierige Thema der histaminergen Erkrankungen interessiert, wird hier fündig:
Schweizerische Interessengemeinschaft für Histaminintoleranz (SIGHI)
Biogene Amine – Ernährung bei Histaminintoleranz (Andreas Steneberg 2007)
Histaminintoleranz – zwischen Mythen und Fakten (Schmidt-Grendelmeier et al 2020)
Histaminintoleranz (HIT) – ein Krankheitsbild, das es gar nicht gibt? (Andreas Steneberg 2021)
EHRS-Webinar: Histaminarme Diäten: Fakten und Kontroversen (2021 / 2022)

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